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Ursachen

Es gilt heute als gesichert, dass ADHS zu einem hohen Prozentsatz erblich ist. Die Wahrscheinlichkeit für Kinder ADHS zu haben, wenn auch ein Elternteil betroffen ist, liegt bei 20-30 %. Man findet aber fast immer weitere Familienmitglieder, die ADHS-Symptome aufweisen. Der Ausprägungsgrad kann dabei stark variieren. Haben beide Eltern ausgeprägt ADHS, so liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die leiblichen Kinder ADHS entwickeln, bei fast 90%.

Den sichersten Nachweis für die Erblichkeit können Wissenschaftler mit Hilfe der Zwillingsforschung erbringen. Eineiige Zwillinge haben ein identisches Erbgut, während zweieiige Zwillinge unterschiedliches Erbgut aufweisen, so wie es auch bei Geschwistern unterschiedlichen Alters üblich ist.

Man geht davon aus, dass eineiige wie zweieiige Zwillinge unter relativ gleichen Bedingungen aufwachsen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich ADHS bei 80% der eineiigen Zwillinge gleichermaßen ausbildet, im Gegensatz zu nur 28% bei den zweieiigen. Das bedeutet, dass bei gleichem Erbgut die Wahrscheinlichkeit, ADHS zu entwickeln, um den Faktor drei steigt.

Ein stützendes, liebevolles, aber klar strukturierendes Elternhaus ist für die Bewältigung des Alltags hilfreich. Denn Kinder, die ADHS haben, sind weniger stressresistent und belastbar. ADHS wird sich stärker ausprägen, wenn das Elternhaus problematisch und belastend ist oder aber die Kinder schwere Schicksalsschläge hinnehmen mussten. Je weniger Halt und Struktur die Familie dem Kind vermitteln konnte, desto weniger Korrektur und Unterstützung konnte es erfahren und desto ausgprägter kann sich ADHS entwickeln.

Drogenabhängigkeit der Mutter und/oder Zigaretten- und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft erhöhen das Risiko für ADHS. Geringes Geburtsgewicht, besonders aber Frühgeburt sind ebenfalls Risikofaktoren.

Was genau geschieht im Gehirn eines ADHS-Betroffenen?
Die Forschung hierzu ist noch nicht abgeschlossen, und es gibt viele Theorien, die noch nicht bestätigt sind.

Sicher ist heute, dass die ADHS eine Störung bzw. eine Normvariante des Frontalhirns darstellt. Das Frontalhirn ist zuständig für die Verhaltensregulierung, aber auch für Entscheidungen, Auswertung von Erfahrungen und für die gesamte Steuerung des Organismus. Das Frontalhirn oder auch Vorderhirn steuert die Informationsverarbeitung all der Millionen Reize, die jede Sekunde auf uns einströmen. Es muss diese Reize mit Hilfe untergeordneter Hirnzentren filtern, sortieren, ablegen, löschen oder aber weiterleiten. Das setzt voraus, dass in unserem Gehirn eine Informationsverarbeitung und eine Selektion nach Prioritäten stattfinden. Funktionieren diese Filter nicht ausreichend, kommt es zu einem Daten- „Overflow“ . Das Gehirn kann die einströmenden Reize nicht sinnvoll verarbeiten, und der ADHS-Betroffene ist nicht mehr in der Lage, die Fülle der Informationen sinnvoll zu sortieren und zu nutzen. Er kann sie nicht ausreichend gewichten und bewerten.

Machen wir uns dies einmal klar: Das Gehirn wird pro Sekunde mit 400 Milliarden Bits an Informationen bombardiert. Von dieser unvorstellbaren Informationsflut filtert unser Gehirn die wesentlichsten Informationen heraus, so dass nur 2000 Bits pro Sekunde in unser Bewusstsein gelangen. Wenn wir uns z. B. auf einen Vortrag konzentrieren filtert das Gehirn die unwesentliche Hintergrundinformation heraus, so dass wir nur den Vortrag hören können. Wir nehmen nur ganz am Rande wahr, dass der Nachbar seine Nase putzt, der Straßenverkehr draußen laut ist, gerade ein Flugzeug das Gebäude überfliegt und zwei Reihen hinter uns geschwätzt wird. Das „ADHS-Hirn“ kann diese Hintergrundgeräusche nicht so erfolgreich herausfiltern und so nimmt es die tickende Uhr des Nachbarn oder das Geflüster des Nebenmannes gleich laut und gleich wichtig wahr wie den Vortrag. Das irritiert ungemein.

So bekommt der ADHS-Betroffene nur ein diffuses Bild der aktuellen Situation, vergleichbar mit dem Blick durch eine Brille, die unscharf eingestellt ist. Hinzu kommt, dass wir in unserer modernen Informationsgesellschaft ohnehin ständig mehr Reizen ausgesetzt sind, als unser Hirn verarbeiten kann – mit steigender Tendenz. Diese Reizüberflutung überfordert einen Menschen mit ADHS in besonderem Maße und zeigt sich in ständiger Ablenkbarkeit, Erschöpfung und Zerstreutheit.

Wenn der „ADHS-ler“ hingegen seine Aufmerksamkeit auf etwas fokussieren kann, was ihn wirklich interessiert, entwickelt er einen „Fernrohrblick“, mit dem er Kleinigkeiten sehr genau und scharf wahrnimmt. Wichtige andere Informationen nimmt er aber dann kaum wahr. So kann er häufig nicht angemessen auf komplexe Situationen reagieren. Das erklärt, warum Betroffene sich sehr gut auf die Dinge konzentrieren können, die ihnen Spaß machen und für die sie Begeisterung aufbringen, denn hier erfolgt eine Hyperfokussierung und damit wohl auch eine besondere Form der Wachheit und Präsenz. Das Gehirn von Betroffenen arbeitet sehr stark belohnungsabhängig. Wenn etwas Spaß macht und interessant ist, dann können sogar Höchstleistungen erbracht werden und die Konzentration für lange Zeit aufrecht erhalten werden. Das Problem der ADHS-Betroffenen ist es, sich für die Kleinigkeiten, „Unwichtigkeiten“ und Banalitäten des Alltags zu interessieren und diesem die notwendige Achtsamkeit entgegenzubringen. Ihr Gehirn bringt nicht die Motivation und Konzentration für Dinge auf, die nur wenig interessant und abwechslungsreich sind.

Bei hyperaktiven Kindern konnte man weiterhin mit Computersimulationen nachweisen, dass sie auf Reize schnell reagieren, dass sie aber eine deutliche Verlangsamung zeigen, wenn es darum geht, ihre eigenen Handlungen zu unterbrechen oder zu stoppen. Man nennt dies eine verzögerte Inhibition (Hemmung). Man kann sagen, dass bei ADHS-Betroffenen die Handbremse in verschiedenen Situationen nicht funktioniert und sie deshalb überschießend reagieren.

ADHS-Betroffene haben außerdem mit einer Störung der Impulskontrolle und der Verhaltensregulierung, zu kämpfen: Diese wird nämlich ebenfalls vom Frontalhirn gesteuert. Die Resonanz auf Reize ist deutlich erhöht. So wie die Reize ungefiltert auf den ADHS-Betroffenen einstürzen, so ungefiltert schleudert er auch seine Gefühle in die Welt, oft mit fatalen Folgen. Eine angemessene Verhaltensregulierung kann so nicht regelmäßig und vorhersehbar erfolgen. Stattdessen versagen die Hemmungs- und Kontrollsysteme des Frontalhirns und bedingen die überschießenden, unberechenbaren Gefühle und Erregungszustände des ADHS-Betroffenen.

Medizinisch hat man durch neue PET-Untersuchungen (Positronenemissionstomographie) eindeutig nachweisen können, dass die vorderen Hirnabschnitte beim ADHS-Betroffenen weniger stark durchblutet sind. Es konnte auch eine geringere Nervenaktivität in bestimmten Hirnregionen nachgewiesen werden. Darüber hinaus werden Nebenregionen des Gehirns aktiviert, die eine genaue Zuordnung/Verarbeitung erschweren. Man nimmt heute an, dass die hemmenden Funktionen des Frontalhirns nicht ausreichend aktiviert sind, so dass die Brems- und Hemmungssysteme des Gehirns nicht zufriedenstellend arbeiten. So   entstehen die überschießenden Reaktionen und Gefühle. Dies betrifft auch die Motorik, die Bewegung. Dem ADHS-Betroffenen gelingt es nur schwer, seine Kraft zu dosieren, seine Feinmotorik gut zu koordinieren.

Der ADHS-Betroffene hat auch Probleme sich zu motivieren, die Erledigung seiner Pflichten rechtzeitig zu beginnen und diese vollständig zu Ende zu bringen Das nennt man Prokrastination.

Es scheint für ihn schwieriger zu sein, Informationen vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis zu transferieren. Offenbar ist der Arbeitsspeicher insgesamt kleiner. Daher ist der ADHS-Betroffene auf gute Lernstrategien angewiesen: Er muss den Arbeitsspeicher auf Zettel auslagern. Er benötigt mehr Lernwiederholungen als andere, um den Lerninhalt dauerhaft zu speichern. Nur mit guter Motivation ist hier etwas zu erreichen.

Man fand außerdem Größenveränderungen in den vorderen Hirnabschnitten und in den Hirnkernen. Auch bei den wichtigen Gehirnhormonen, den Neurotransmittern, wurden Veränderungen festgestellt. Sie bestimmen wesentlich unser Fühlen und unsere Befindlichkeit. Bei der Entwicklung der ADHS spielen die Hormone Serotonin, Dopamin und Noradrenalin eine Rolle.

Was wir zunehmend auch verstehen ist, dass ADHS eine Art Netzwerkstörung ist im Aufmerksamkeits- und Motivationsnetzwerk. Offensichtlich ist die Verschalung verschiedener Hirnregionen anders. Dies verstehen wir aber erst in Ansätzen.

Noradrenalin ist für die Aufmerksamkeit und Aktivität zuständig, Serotonin für die Impulskontrolle. Man konnte verminderte Serotoninspiegel auch bei Zwangserkrankungen und Depressionen nachweisen. Das wichtigste Hormon bei der Entstehung der ADHS ist das Dopamin. Es steuert die Aktivität, den Antrieb und die Motivation. Wissenschaftler konnten belegen, dass sich bei ADHS Störungen am Dopaminrezeptor und auch am Dopamin-Transporter-Gen finden, so dass Dopamin in bestimmten Hirnarealen nicht ausreichend vorliegt weil er zu schnell abgebaut wird. Man konnte bis jetzt an verschiedenen Genen (5q13, DRD4, DRD5, SERT und DAT1) Veränderungen nachweisen.

Gesichert ist, dass der Neurotransmitter Dopamin zu schnell im synaptischen Spalt, seinem Wirkort, abgebaut wird. Dies erklärt damit auch die Wirkung von Methylphenidat (z. B. Ritalin), das über die Blockade des Transporterproteins eine Erhöhung des Dopaminspiegels bewirkt und soden Dopaminspiegel heraufreguliert.

Leider kann die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt nur in aufwändigen Untersuchungen für die Forschung gemessen werden. Sie sind für die Patienten zu belastend und auch zu teuer, um sie als Standarduntersuchungen einzuführen. Deswegen gibt es keine medizinischen Untersuchungen, die ADHS an Hand von Laborwerten oder bildgebenden Verfahren eindeutig belegen können.

ADHS ist also eine Dopaminmangelerkrankung. Das bedeutet, dass Dopamin ersetzt werden muss.  Das ist das gleiche Prinzip wie bei Diabetes, wo Insulin substituiert werden muss bzw. bei einer Schilddrüsenunterfunktion,wo Tyroxin ersetzt werden muss. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass ADHS zunächst eine neurobiologische Störung ist und keine Ursache in der Kindheit hat und auch nicht durch ein Fehlverhalten der Eltern oder durch Schicksalsschläge verursacht wird. In den gerade neu erschienenen Leitlinien der Bundesärztekammer spiegelt sich auch diese Erkenntnis wieder.

Leitlinien werden von den Fachgesellschaften der jeweiligen Facharztrichtungen und den Universitäten erstellt unter Berücksichtigung aller relevanten wissenschaftlichen Studien, die zu diesem Zeitpunkt der Erstellung vorliegen. Hier findet sich jetzt die sehr klare Empfehlung, dass die aktuell wirkungsvollste Therapie bei ADHS die Behandlung mit Stimulanzien ( Methylphenidat und Ritalin) ist und Psychotherapie alleine nicht den gleichen Erfolg bei ADHS hat. Das finde ich auch schade, weil ich bin selbst Fachärztin für Psychotherapie. Aber es geht ja nicht nach Ideologie, sondern darum, was Betroffenen am besten hilft.

Sie können auf dieser Homepage auch die Leitlinien für ADHS der Bundesärztekammer (PDF) anklicken.